Skip to main content

Aktuelles

Hier möchten wir Sie mit aktuellen Veröffentlichungen auf dem Laufenden halten.

Aktuelle Beiträge

Ein Betreuer ist kein Verteidiger i. S. d. § 140 StPO

27. Oktober 2022

LG Lüneburg, Beschl. v. 14.07.2022 - 22 Qs 41/22 (AG Lüneburg), § 140 StPO

 

Die Beschwerde ist zulässig. ... Die Beschwerde ist auch begründet, da die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 2 StPO vorliegen. Ausweislich des Betreuungsgutachtens ... war der Beschuldigte im Zeitpunkt der Antragstellung durch Rechtsanwalt W nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Das Gutachten stellt eine "erhebliche Desorganisiertheit" bei dem Beschuldigten fest, " was das problemlösende Denken, Planen und Handeln gravierend" beeinträchtigte.

Der erforderliche Umfang der Betreuung umfasste insbesondere die "Vertretung gegenüber Behörden, Gerichten und anderen staatlichen Stellen". Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung im Betreuungsgutachten nicht oder nicht mehr der aktuellen Situation entspricht, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Entgegen der Auffassung der StA kann der Beschuldigte nicht darauf verwiesen werden, sich durch seinen Betreuer "verteidigen" zu lassen. Denn dies entspricht nicht dem gesetzlichen Leitbild des § 140 Abs. 2 StPO, wonach Personen, die sich nicht selbst verteidigen können, ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist. Darüber hinaus erscheint die Annahme einer regelhaften "Verteidigung" durch einen Betreuer auch im Hinblick auf die Vorschriften der §§ 137 Abs. 2 S. 1 und 138 Abs. 2 S. 1 StPO problematisch, weil auch diese Regelungen nahelegen, dass die Verteidigung durch einen Betreuer nicht dem gesetzlichen Leitbild entspricht (vgl. insoweit auch Meyer-Großner/Schmitt, StPO, § 140 Rn 30 m.n.W., wonach die Bestellung eines Pflichtverteidigers sogar dann in Betracht kommen soll, wenn der Betreuer zugleich Rechtsanwalt ist). Die vorläufige Einstellung des Verfahrens gem. § 153a StPO durch Beschluss des AG vom 29.06.2022 steht der Beiordnung des Pflichtverteidigers nicht entgegen.

Denn der Antrag auf Beiordnung wurde von Rechtsanwalt W bereits mit Schriftsatz vom 24.03.2022 gestellt und das Verfahren erst später aufgrund seiner Anregung im Schriftsatz vom 28.04.2022 eingestellt. Der Umstand, dass über den rechtzeitig gestellten Antrag erst nach der vorläufigen Beendigung des Verfahrens entschieden wurde, darf sich nicht zum Nachteil des Antragstellers auswirken. ...

 

 

Haben Sie strafrechtliche Probleme?

Als Fachanwälte für Strafrecht und Strafverteidiger in Köln beraten wir Sie bei allen in Betracht kommenden strafrechtlichen Fragestellungen und sind für Sie unter

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. 

0221-59552324

zu erreichen.

Das pauschale Bestreiten des Tatvorwurfs im Ermittlungsverfahren ist einem Schweigen gleichzusetzten

25. Oktober 2022

BGH, Beschl. v. 1.7.2022 - 1 StR 139/22 (LG Waldshut-Tiengen), § 261 StPO

 

Das LG hat den Angekl wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, zwei Monaten und drei Wochen verurteilt. 

Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angekl hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). ...

2. Das LG hat sich die Überzeugung von der Täterschaft des Angekl vor allem aufgrund der Angaben der Nebenklägerin verschafft; der am zweiten und dritten Hauptverhandlungstag abgegebenen Einlassung des die Tat bestreitenden Angekl ist sie nicht gefolgt. 

II. 1. Die Verurteilung des Angekl hält einer sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil die Beweisführung des LG nicht frei von Rechtsfehlern ist (§ 261 StPO). Das LG hat in unzulässiger Weise aus dem anfänglichen Schweigen des Angekl für diesen nachteilige Schlüsse gezogen. 

a) Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Es steht dem Angekl frei, ob er sich zur Sache einlässt oder nicht zur Sache aussagt (§ 136 Abs. 1 S. 2, § 243 Abs. 5 S. 1 StPo). Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angekl die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste (st. Rspr.: vgl. nur BGH, Beschl. v. 28.05.2014 - 3 StR 196/14 Rn 3 m.w.N.). Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der anfänglichen Aussageverweigerung - und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angekl erstmals einlässt - nachteilige Schlüsse gezogen werden (BGH, Beschl. v. 13.10.2015 - 3 StR 344/15 Rn 5 und v. 17.09.2015 - 3 StR 11/15 Rn 5).

b) gegen diesen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit des Angekl hat das LG verstoßen.

aa) In den Urteilsgründen hat es beweiswürdigend ausgeführt, der Angekl habe ein "ausgesprochen taktisches Aussageverhalten" gezeigt. Als ihm am ersten Hauptverhandlungstag Gelegenheit gegeben worden sei, sich zur Sache einzulassen, habe er noch von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht; erst nach der Vernehmung der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung habe er eine erste Einlassung zur Sache abgegeben. 

Der vom Angekl gewählte Einlassungszeitpunkt im September 2021 sei "auffällig". Ihm sei das Verfahren bereits seit 2018 bekannt gewesen; gleichwohl habe er sich erst eingelassen, nachdem die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung vernommen worden sei und einen unerwartet stabilen Eindruck hinterlassen habe; noch im Ermittlungsverfahren habe er keine Angaben zur Sache gemacht, sondern lediglich geäußert, sich nicht an einen Vorfall erinnern zu können, der einen solchen Vorwurf rechtfertige; auch im Explorationsgespräch mit dem psychiatrischen Sachverständigen habe er die Tatvorwürfe aus der Anklageschrift "nur weitgehend pauschal als unrichtig bestritten". Die Strafkammer habe hierdurch den Eindruck gewonnen, der Angekl habe mit Absicht die ihm am ersten Hauptverhandlungstag eingeräumte Gelegenheit für eine Einlassung zur Sache verstreichen lassen; vermutlich in der Hoffnung, die Nebenklägerin werde aufgrund ihrer psychischen Belastung gar nicht in der Lage sein, in der Hauptverhandlung eine "brauchbare" Aussage zu machen, habe er deren Aussage abgewartet, damit er seine Einlassung entsprechend anpassen könne. Die "eindeutige taktisch motovierten" Angaben des Angekl haben zwar keinen Beleg für dessen Schuld erbracht; seine Einlassung habe jedoch auch keinen positiven Erkenntniswert. 

bb) Mit dieser Würdigung hat das LG rechtsfehlerhaft darauf abgestellt, dass der Zeitpunkt der Einlassung des Angekl gegen deren Richtigkeit spreche. Das LG hat nicht allein - was für sich genommen zulässig gewesen wäre - darauf abgehoben, dass einer in Kenntnis der Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung abgegebene Einlassung ein geringerer Beweiswert beigemessen werden kann, weil der Angekl die Möglichkeit hatte, seine Darstellung an deren Inhalte und die bisherigen Ermittlungserkenntnisse insgesamt anzupassen (vgl. BHG, Beschl. v. 21.10.2020 - 5 StR 411/20 und Urt. v. 05.07.2017 - StR 110/17 Rn 9, jeweils m.w.N.). Vielmehr hat es aus dem vom Angekl gewählten Einlassungszeitpunkt auf dessen Verteidigungstaktik geschlossen und seiner "eindeutig taktischen motivierten " Einlassung einen geringeren Wert zugemessen. Damit hat es in unzulässiger Weise die Gründe für sein Aussageverhalten bewertet und aus dem Zeitpunkt seiner Einlassung nachteilige Schlüsse für den Angekl gezogen. 

cc) Es liegt auch kein Fall einer der Beweiswürdigung zugänglichen Teileinlassung vor. Das pauschale Bestreiten des Tatvorwurfs durch den Angekl im Ermittlungsverfahren ist einem Schweigen gleichzusetzen (vgl. BGH, Beschl. v. 05.09.2012 - 1 StR 324/12 Rn 7 und v. 17.06.1992 - 1 StR 196/92 Rn 30; Urt. v. 26.05.1992 - 5 StR 122/92, BGHSt 38, 302, 307). Näheres zum "nur weitgehend pauschal(en)" Bestreiten des Angekl im Rahmen seiner Exploration teilen die Urteilsausführungen nicht mit, so dass hieraus nichts anderes folgt. 

Unabhängig davon könnten aus dem Ermittlungsverfahren des Angekl unter dem Gesichtspunkt des Teilschweigens keine für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden. Das teilweise Schweigen eines Angekl darf als Beweisanzeichen zu seinem Nachteil nur verwertet werden, wenn dieser im Rahmen einer Einlassung zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen zu dem betreffenden Teilaspekt auch auf konkrete Nachfrage hin keine Antwort gegeben hat oder nach den Umständen Angaben zu dem verschwiegenen Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich lediglich fragmentarischer Natur sind (vgl. BGH, Beschl. v. 21.12.2021 - 3 StR 380/21 Rn 11 m.w.N.). Dies ist nach den Urteilsausführungen nicht der Fall. ...

 

 

Haben Sie strafrechtliche Probleme?

Als Fachanwälte für Strafrecht und Strafverteidiger in Köln beraten wir Sie bei allen in Betracht kommenden strafrechtlichen Fragestellungen und sind für Sie unter

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. 

0221-59552324

zu erreichen.